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Geschichten

in Sinn- und Schatzkiste 10.11.2010 14:12
von martin_r • 576 Beiträge

"Trauriges Märchen"
Als aber der große Krieg schon viele Jahre vorbei war, da versammelten sich die, die ihn überlebt hatten und die, die seither geboren worden waren und berieten sich; denn sie sagten: „Wir wollen nicht, dass mit uns wieder Krieg gemacht wird.“ – „Wenn wir das nicht wollen“ sagte einer mit dem Namen Optimist, „dann wird auch kein Krieg mehr mit uns gemacht werden.“ Und alle freuten sich.

„Halt“, sagte da ein alter Mann, „das ist nicht so einfach. Als ich noch ein Kind war, viele Jahre vor dem Krieg, hatte es nämlich schon einen grossen Krieg gegeben, und damals hiess es nachher auch: Wir wollen, dass mit uns nie wieder Krieg gemacht wird. Und trotzdem wurde wieder Krieg gemacht, und der war dann sogar noch grösser und noch ärger.“

Da fragten sie ihn: „Wie machen wir es dann also, wenn wir nicht wollen, dass mit uns wieder Krieg gemacht wird?“

„Das ist ganz einfach“, sagte der alte Mann, „aber das ist nicht ganz leicht.“

„Ganz einfach, aber nicht ganz leicht, was soll denn das wieder heissen?“ erboste sich nun einer. Aber die anderen sagten: „Sei still und lass ihn reden!“ Da war er still und liess ihn reden, aber er hörte nicht zu, sondern schlich sich heimlich weg.

„Ganz einfach ist es“, sagte der Alte, „wenn ihr nicht wollt, dass man mit euch Krieg macht, dann müsst ihr euch so miteinander verabreden, dass man mit euch überhaupt nichts machen kann , was ihr nicht wollt. – Denn wenn ihr sonst immer alles andere mit euch machen lasst, dann lasst ihr zuletzt todsicher auch wieder mit euch Krieg machen.“

„Ja, aber“, fragten die anderen, „aber wie sollen wir uns so miteinander verabreden?“ „Und wie sollen wir überhaupt rechtzeitig herausfinden, was man mit uns alles machen will?“ – „Das eben ist nicht ganz leicht“, sagte der alte Mann. „Das müsst ihr durch Übung selbst herausfinden, und da müsst ihr eben die Augen und Ohren offenhalten. Und überhaupt wisst Ihr: Damals, als ich ein Kind war, nach dem Krieg, da haben eben in Wirklichkeit auch nicht alle gesagt nie wieder Krieg, sondern manche haben etwas ganz anderes gesagt, aber auf die haben wir nicht rechtzeitig aufgepasst und uns nicht vor ihnen geschützt… Ihr müsst misstrauischer sein!“

In diesem Augenblick kam der, der sich heimlich fortgeschlichen hatte, mit einigen uniformierten Bewaffneten zurück. Er hatte die letzten Worte noch gehört: „Der da ist es!“ rief er und zeigte auf den alten Mann. „Der hetzt uns zum Misstrauen und Unfrieden gegeneinander auf.“ Und die uniformierten Bewaffneten führten den Alten ab. Die anderen aber, die ihn gefragt hatten, blieben noch lange beisammen und diskutierten zum Teil darüber, wie sie verhindern könnten, dass man wieder Krieg mit ihnen macht, zum Teil aber auch darüber, ob dem alten Mann nun eigentlich Recht geschehen sei oder nicht, dass die Bewaffneten ihn abgeführt hatten. Die einen meinten: „Er hat uns ja nur seine Meinung gesagt, und nur auf unsere Fragen geantwortet.“ Aber andere meinten: „Er hat uns schliesslich doch zum Misstrauen aufgefordert, und Misstrauen erzeugt Unfrieden und Unfrieden erzeugt Krieg“, und der Mann namens Optimist meinte: „Vielleicht sollten wir überhaupt froh sein, dass wir jetzt unseren lieben Frieden haben und sollten nicht so viele Fragen stellen.“

Sie sprachen noch lange, aber sie konnten sich nicht einigen, und nach einer halben Stunde oder nach einer Stunde hatten sie den alten Mann vergessen.


Erich Fried

zuletzt bearbeitet 10.11.2010 14:39 | nach oben springen


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